Die Suche nach Policy-Fehlern und eher plumpes Brüssel-Bashing gehen in der Impfdiskussion gerade Hand in Hand. Ersteres ist notwendig, letzteres aus vielen Gründen gefährlich.

Der Versuch einer Einordung:
1/ Die Mitgliedstaaten haben die EU im Sommer beauftragt, in ihrem Namen mit Impfstoffherstellern zu verhandeln. Dafür gibt es Verträge zwischen EU und Mitgliedstaaten inklusive detaillierter Governance (siehe Link).
https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/annex_to_the_commission_decision_on_approving_the_agreement_with_member_states_on_procuring_covid-19_vaccines_on_behalf_of_the_member_states_and_related_procedures_.pdf
2/ Die EU-Kommission übernahm dabei von der "Impfallianz" geführt von 🇩🇪🇳🇱🇫🇷🇮🇹, inkl. deren Vereinbarung mit AstraZeneca über mind. 300 Mio Dosen für die EU. Die Grundstrategie, eben nicht für alle EU-Bürger*innen von allen Herstellern zu kaufen, war damit schon gesetzt.
3/ Es gibt nun gute ökonomische Argumente dafür, dass der gesamte Ansatz zu zögerlich war und dass man mit mehr Bestellungen schnell mehr Impstoff bekommen hätte. @simon_jaeger, @OdendahlC und @BachmannRudi haben das ausgeführt. Dazu wird es irgendwann gute Studien geben.
4/ Aber dabei gilt: Alle Entscheidungsträger*innen in Berlin und auch in München wussten, was die Strategie in Bezug auf die Liefermengen war. Die Zahlen waren seit Monaten bekannt. Wer jetzt empört so tut, als habe er von nichts gewusst, hat entweder gepennt oder lügt.
5/ Und natürlich ist der Gipfel des Unfugs die Idee, hier sei irgendetwas grundsätzlich gegen den Willen Deutschlands passiert. Der Impfstoff ist nicht mal EU-Kompetenz. Die Kommission ist in diesem Fall Dienstleisterin für die Mitgliedstaaten. Hier geht nichts gegen Berlin.
6/Auch die Idee, es habe zu wenig Bestellungen bei Biontech (300 Mio) gegeben, weil man noch bei Sanofi in 🇫🇷 300 Mio einkaufen musste, wirkt schon ziemlich konstruiert - allein schon weil die Kommission eine Woche später auch bei CureVac in Tübingen über 400 Mio Dosen bestellte.
8/ Trotzdem täte die Kommission, gerade in Gestalt ihrer Präsidentin, sehr gut daran, hier jetzt mal offensiv zu kommunizieren. Es war richtig, dass sich die Mitgliedstaaten im Binnenmarkt keinen Impfstoffwettbewerb geleistet haben. Das kann und sollte man auch weiter so sagen.
9/ Aber man muss auch ein paar im Raum stehende Vorwürfe aus dem Weg räumen - und wenn es sein muss, auch Fehler eingestehen. Und man darf auch aus Brüssel mal auf die Mitgliedstaaten zeigen, wenn dort eine Mitverantwortung ist - das machen die ja auch gerne.
10/ Auch mehr Transparenz bei den Verträgen könnte helfen - wir können das Handeln der EU gar nicht seriös bewerten, wenn wir nicht wissen, welche Vereinbarungen sie mit der Herstellern geschlossen hat. Hier sollte das EP weiter Druck machen.
11/ Gefährlich ist dagegen das hemmungslose Geballere auf Brüssel, um kurzfristig von der eigenen Verantwortung abzulenken, sei es bei der Impfstoffstrategie oder bei allen anderen Aspekten der Pandemie. Gerade vor wichtigen Entscheidungen ist die Versuchung dafür natürlich groß.
12/ Brussels-Bashing is as old as time und oft nicht völlig unberechtigt. Aber wenn man anfängt, "Brüssel" Tote in die Schuhe zu schieben, macht man damit Vertrauen in der Bevölkerung in die EU kaputt, das man nie wieder zurückbekommt - und am Ende freut sich die AfD.
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