Heute vor 150 Jahren begann das Kaiserreich, der 1. deutsche Nationalstaat. Dazu ein kurzer Thread.
Auffällig ist die Diskrepanz zwischen der Forschung, die seit langem (30, 40 Jahre) ein differenzierteres & positiveres Bild zeichnet, u dem öffentlichen Diskurs.
(Wannsee ca.1910)
Meine Kollegen hatten recht, als sie mir entsetzt vom verkürzten Blick des (sonst sehr geschätzten) Bundespräsidenten auf das Kaiserreich erzählt haben -in seiner Rede zum 3.10. Das ist nichts als Pickelhaubengeschichte & ignoriert alle Aufbrüche der Zeit.
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/10/201003-TdDE-Potsdam.html
Es gibt nicht „die" Forschung u vieles wird unterschiedlich eingeschätzt. Aber das öffentliche Bild eines „neoabsolutistischen“ Reichs des Militarismus, lässt sich nicht halten. Es gibt kaum Zeitungs- und Rundfunkbeiträge zum Kaiserreich ohne Pickelhauben und Marschmusik-Pfeifen.
Warum lohnt der differenzierte Blick auf das Kaiserreich? 1. Zum Verständnis unsere Zeit, weil mit der Massenpolitisierung um 1900 Demokratisierungsprozesse begannen; 2. Die Aufbrüche offenbaren die dunklen Seiten -nicht als das ganz andere, sond als unserer Gesellschaft inhärent
Sobald die Fixierung auf die Pickelhaube nachlässt, zeigt sich eine verblüffend reiche,widersprüchliche Epoche. Ich will nur 3 dieser großen Aufbrüche darstellen. 1 Verfassung&Reichstag;2 Sozialdemokratie(nicht nur als Opfer,sondern als starke Akteurin);3 Gschlechterhierarchien!
Entscheidend ist es, die Exotisierung des Kaiserreichs zu beenden. Die dunklen Seiten waren wie fast alles in dieser Zeit der ersten Globalisierung international: Antisemitismus, Militarismus, Imperialismus etc. Es erklärt wenig, sie als deutsches Phänomen zu beschwören
Zum ersten Punkt, Verfassung & Reichstag.
Am Anfang des Kaiserreichs war - tatsächlich! - die Verfassung: Sie trat am 1. Januar 1871 in Kraft und begründete das „Deutsche Reich“. Deutschland war eine konstitutionelle Monarchie und hatte damit die in Europa übliche Staatsform.
Die Verfassung war vom Reichstag des Norddeutschen Bundes intensiv beraten und dann verabschiedet worden: Die Grundlage des Staates war also durchaus *auch* ein Effekt der Volkssouveränität (wie schon Huber bemerkt hatte). Hier ein unvollständiger Überblick über die Beratungen:
Dass der Reichstag im Verfassungsalltag das bekannteste Verfassungsorgan & immer mächtiger wurde und schon Bismarck einsah, dass er nicht gegen das Parlament regieren kann, gilt spätestens seit der Forschung der großen Margaret Anderson als weithin akzeptiert.
Dazu trugen die Wahlen bei, deren Praxis oft mehr über die Demokratisierung aussagen als der Verfassungstext. Im Kaiserreich wurden Reichstagsreden in Zeitungen abgedruckt u in Kneipen diskutiert. Hier Public Viewing bei der Wahlnacht 1907.
Literatur: https://www.springer.com/de/book/9783658160975
Denn die Verfassung 1871 berief sich auch auf die (großartige) Paulskirche 1848/49: Sie installierte ein weites Wahlrecht, sogar ein allg & gleiches Männerwahlrecht. (Die USA und die meisten anderen Staaten kamen erst später.)
Hier @JafJan zur Paulskirche: https://taz.de/Sanierung-der-Frankfurter-Paulskirche/!5540025/
2. Punkt. Sozialdemokratie. Erinnert wird oft nur an die Zeit der Sozialistengesetze unter Bismarck. Das war tatsächlich ein dem dt Rechtsstaat unangemessene, brutale Verfolgung von Andersdenkenden. Das Parlament verlängerte denn auch die Gesetze 1890 nicht mehr.
(Berlin 1888)
Doch die Sozialdemokratie war stark&selbstbewusst! Das Ende d Sozialistengesetze hielt sie (nicht zu unrecht) für ihren Erfolg (u nicht „der Kaiser“ beendete die Gesetze, wie immer wieder behauptet wird,sond das Parlament).
Hier feiern die Sozialisten ihren großen (Wahl)Sieg 1893
In seinem klugen, informierten & doch gut lesbaren Buch über das Kaiserreich stellt Christoph Nonn fest: „Die wichtigste gesellschaftliche Basisbewegung im Kaiserreich war die sozialistisch“, nicht der Militarismus, der verschärfte Nationalismus oder der Antisemitismus (S. 403).
Die Viktimisierung der Sozialist:innen führt zur Verkennung ihrer Leistungen - bei einer der entscheidenden Veränderungen: der Wohlstandsanhebung für alle. Um 1900 sanken die Arbeitszeiten, Reallöhne stiegen, Nahrung etc. wurde besser
(um 1900, Stadtarchiv Heilbronn)
Der Vorwärts resümierte 1899: „Unsere Sache hat große Fortschritte zu verzeichnen in Deutschland wie in allen übrigen Kulturländern.“ -„Es ist der Ruhm des 19. Jhs“, die „Massen selbst zu den entscheidenden Trägern der menschlichen Kultur“ gemacht zu haben
https://www.fes.de/bibliothek/vorwaerts-blog/vorwaerts-digitalisierung
Es entstand ein Sozialstaat, der sozialistische Forderungen erfüllte (auf Druck durch revolutionäre Drohungen, zur Eindämmung des Sozialismus, aber auch auf Druck von Politikern u Sozialreformer:innen aller politischer Couleur).
(Arbeit bei Krupp 1880 im Vorwärts)
Der Sozialstaat aber ist eine *der* Säulen der liberalen Demokratie. In dieser chauvinistischen Zeit fühlten sich die Nationen im Wettbewerb - in jeder Hinsicht: größte Flotte, stärkstes Parlament, größte Kolonien. Deutschlands Sozialstaat galt weithin als der beste
(Plakat 1914)
Es gibt so viel wichtige Forschung zu den sozialen Aufbrüchen und Reformen, etwa von Iris Schröder ( @Campusverlag) oder Christoph Sachße oder Gertrude Himmelfarb oder Anja Schüler oder von @Uwe_Fuhrmann_ .
3. Punkt: Der (große, große, große) Aufbruch der Frauen! Es ist verblüffend, wie der so lange ignoriert werden konnte, obwohl es wirklich großartige Forschung dazu gibt. Lange Zeit erhielten die Frauen in der „allgemeinen“ Kaiserreichgeschichte allenfalls ein Zusatzkapitel.
Wenn wir die Aufbrüche & Reformen den Blick bekommen, bleibt die Bühne des Kaiserreichs nicht nur bevölkert von Pickelhauben, Junkern, Industriebaronen, Bismarck, Kaiser u anderen Bösewichten, sondern die Frauen treten auf. Auch sie:überaus selbstbewusst& vielfältig
(Berlin 1912)
Die Forschung ist reich, ich will hier nur einige Namen nennen: Angelika Schaser, Ute Planert, @BirteFoerster, Kinnebrock, @BriatteAnne, Kerstin Wolff, Magdalena Gehring, Gisela Bock, Gunilla Budde, etc. pp.
Hier will ich nur 3 Gründe nennen, warum die Frauen im Kaiserreich so lange ignoriert wurden (und teilweise noch immer werden): 1. Grundsätzlich, weil Frauen bis vor nicht allzu langer Zeit aus der Geschichte ausgeblendet wurden, weil Geschichte Männergeschichte war; ->
2. Weil Frauen weniger Revolutionsgeschichte haben. In der Männergeschichte traten zuweilen Rosa Luxemburg od (die wenigen) militantenSuffragetten auf, aber nicht die Mehrheit der Frauen,die friedlich Reformen forderten.Revolution ergab in ihren Rechtsstaaten wenig Sinn,so Teele:
Die meisten großen Frauen um 1900, Sozialistinnen& Bürgerliche, passten nicht in die Revolutionsherrlichkeit, weil sie Petitionen schrieben, denkbar unrevolutionär gekleidet waren, Vereine gründeten u immer wieder: Reformen forderten.
(Vorstand des IFB 1904, Berlin)
3. Frauengeschichte in Deutschland wurde marginalisiert (zuweilen auch viktimisiert), weil aus dem Kaiserreich schlicht nichts Gutes kommen konnte. Der Großteil der feministischen Aufbrüche galt in Deutschland lange Zeit als problematisch. Dazu Schaser, Schraut, Steymans-Kurz:
In meinem Essay zum Kaiserreich, das im März bei @suhrkamp erscheint ist meine These: Die großen Inklusionen u. die Massenpolitisierung verstärkte die Exklusion. Nation integrierte u exludierte; die Globalisierung verstärkte Europäisierung u Kolonialismus.
https://www.suhrkamp.de/buecher/aufbruch_in_die_moderne-hedwig_richter_12762.html
Eine kleine Auswahl an bisher nicht genannten Autor:innen zum Kaiserreich: @Fleche66, Beate Althammer, Bösch, @ChristofDejung, @OHaardt, Carola Groppe, @juergenzimmerer, Conrad, B Kundrus, Jörg Fisch, @paulmann_ieg, Lenger, Leonhard, Gall, @RichardEvans36 etc. pp.
Und es gibt tolle Podcasts, in denen die großen Frauen des Kaiserreichs gewürdigt werden und ihr Beitrag zur Demokratisierung und zum Sozialstaat. Etwa @frauenvondamals @HerStoryPod #DiePodcast etc. Außerdem zur sozialen Demokratie ( @boeckler_de) https://www.erinnerungskulturen.boeckler.de/index.htm 
Der Thread ist nur ein WINZIGER Einblick. Daher zum Schluss: Gerne ergänzen! Und noch ein Bild vom Reichstag, in dem sich immer wieder Frauenrechtlerinnen zu Arbeitstreffen trafen, um ihren Anspruch auf politische Teilhabe zu forcieren.
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